Der Umgang mit den „Euthanasie“-Verbrechen von 1945 bis heute

Rückkehr der Samariterstiftung und juristische Aufarbeitung

In den Jahren 1946/47 wurden die durch Weisung des Stuttgarter Innenministeriums im Jahr 1939 beschlagnahmten Gebäude des Schlosses Grafeneck von der französischen Besatzungsbehörde an die Samariterstiftung zurückgegeben. Die Menschen mit Behinderung, die aus Grafeneck vertrieben worden waren und Krieg und Verfolgung überlebt hatten, zogen erneut ins Schloss ein.

Mit den Grafeneck-Prozessen in Freiburg im Jahr 1948 und Tübingen im Jahr 1949 begann die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen in Baden und Württemberg. Die juristische Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen war sowohl von den alliierten Besatzungsmächten als auch den deutschen Behörden angestoßen worden. In Freiburg standen zwei Angeklagte vor Gericht, in Tübingen acht Personen. Die Freiburger Angeklagten, beide leitende Beamte des badischen Innenministeriums, wurden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, jedoch bereits in den 1950er Jahren begnadigt.

Der Grafeneck-Prozess, der 1949 in Tübingen stattfand, versuchte ebenfalls den monströsen Verbrechen von Grafeneck Rechnung zu tragen. Das Urteil fiel sehr milde aus: Fünf Freisprüchen standen drei Verurteilungen gegenüber. Die Gefängnisstrafen lagen hierbei zwischen eineinhalb und fünf Jahren. Die hohe Bedeutung des Tübinger Prozesses liegt darin begründet, die Verbrechen akribisch rekonstruiert und die Zahl der Opfer von 10.654 in ihrer Dimension genau bestimmt zu haben.

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Geschichtsverweigerung und frühe Erinnerungsformen

Trotz dieser ersten Schritte der Aufarbeitung wurde in den nächsten vier Jahrzehnten in der Region und auch darüber hinaus nicht über die NS-„Euthanasie“ gesprochen. Eine öffentliche Erinnerung blieb aus oder wurde verweigert, die Opfer wurden weitgehend vergessen.

Diese Form der Geschichtsverweigerung hatte verschiedene Motive, sei es aus Trauer und Betroffenheit, sei es aus Scham angesichts der eigenen Rolle oder Passivität in der NS-Zeit oder sei es, um einer Strafverfolgung zu entgehen.

Spuren, die an das Verbrechen erinnerten, wurden bewusst getilgt. Das Gebäude, in dem die Morde stattfanden, wurde abgerissen. Gleichzeitig waren aber auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten: Zwei Urnengräber für die Opfer wurden angelegt und Anfang der 1960er Jahre richtete die Samariterstiftung mit Unterstützung des Landes einen ersten Gedenkort auf dem Friedhof der Einrichtung ein.

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Auf dem Weg zu Gedenkstätte (1990) und Dokumentationszentrum (2005)

In den 1970er Jahren wurde das Thema gegen vielfältige Widerstände weiter in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Initiativen wie der Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, aber auch die Samariterstiftung wiesen mit Kranzniederlegungen und Gedenkveranstaltungen auf die Geschichte des Ortes hin.

Anlässlich des vierzigsten Jahrestages der Beschlagnahmung Grafenecks für die „Zwecke des Reichs“ nahmen am Buß- und Bettag 1979 mehr als tausend Menschen an einem Sternmarsch zum ehemaligen Ort der Vernichtung teil. Der daraufhin gegründete „Arbeitskreis Gedenkstätte Grafeneck“ brachte sich zuerst bei der Gestaltung des jährlich stattfindenden Gedenkgottesdienstes im Oktober ein. Hinzu kamen erste Nachforschungen zur Geschichte der „Euthanasie“-Verbrechen in Grafeneck und deren Opfer.

Mit dem Bau der Gedenkstätte in den Jahren 1989/90 wurden neue Akzente in der Erinnerungsarbeit gesetzt. Die konzeptionelle Arbeit ruhte damals auf drei Säulen:

  • Gedenken an die Opfer,
  • Mahnen und Bewahren der Erinnerung sowie
  • aktives Erinnern.

Der eigentliche Ort des Gedenkens, eine offene Kapelle, entstand 1990 mit dem Leitgedanken: „Das Gedenken braucht einen Ort“. Die notwendige Ergänzung zur Gedenkstätte, ein „Ort der Information“, wurde 2005 mit dem Dokumentationszentrum geschaffen. Es beherbergt seither eine Dauerausstellung, die umfassende Möglichkeiten wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeitens mit Besuchergruppen bietet, eine Bibliothek, ein Archiv und das Büro der hauptamtlichen Mitarbeiter.

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Dimensionen der Erinnerungsarbeit

Die geschichtliche Dimension und die große geschichtspolitische Bedeutung Grafenecks für Baden-Württemberg und darüber hinaus zeigt sich heute auch in den mehr als 30.000 Besuchern, die jährlich die Gedenkstätte und das Dokumentationszentrum besuchen.

Viele Jugend- und Konfirmandengruppen, Schülerinnen und Schüler, Tagestouristen sowie Angehörige von Ermordeten nutzen die Dauerausstellung im Dokumentationszentrum, aber auch die Führungen, Seminare, Workshops und Vorträge der Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, um sich zu informieren. Die Einträge des Gästebuches zeugen von der tiefen Bestürzung und Anteilnahme der Besucherinnen und Besucher.  

Für eine wachsende Zahl von Angehörigen der mehr als 10.000 Opfer ist Grafeneck ein Ort der Selbstvergewisserung und des Gedenkens der eigenen Familiengeschichte.
Von großer Bedeutung hierbei ist das seit 1990 erarbeitete Gedenkbuch, welches die Namen der Opfer enthält. Waren es ursprünglich 4.000, sind heute mehr als 9.600 Namen bekannt. Das Namensbuch ist bereits seit 1998 zusammen mit dem sogenannten Alphabetgarten Teil der Gedenkstätte.

2015 jährte sich der Beginn der NS-„Euthanasie“-Verbrechen zum 75. Mal. Im Umfeld dieses Jahrestags fanden von Herbst 2014 bis Anfang 2016 zahlreiche Veranstaltungen an vielen verschiedenen Orten in Baden-Württemberg und darüber hinaus statt, die an diese Geschichte erinnerten und der Opfer gedachten.
Gedenken 75 Jahre danach

Als erster baden-württembergischer Ministerpräsident besuchte Winfried Kretschmann im März 2015 die Gedenkstätte Grafeneck. Seit 2005 steht sie unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg.
Besuch des Ministerpräsidenten Kretschmann

Seit 2018 gibt es am Eingang zum Dokumentationszentrum eine Gedenktafel der Landesärztekammer Baden-Württemberg, die sich zur Schuld der damaligen Ärzte bekennt und der Opfer gedenkt.

Am 27. Januar 2020 beging der Landtag von Baden-Württemberg seine zentrale Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus in Grafeneck.

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