Zur Geschichte der Sinti und Roma

Völkermord und Bürgerrechtsbewegung

Der NS-Völkermord an Sinti und Roma

Schätzungsweise 500.000 Sinti und Roma aus unterschiedlichen Ländern Europas wurden unter dem NS-Regime ermordet. Der Völkermord war der grausame Höhepunkt einer langen Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung.

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„Mit einer Rückkehr ist nicht mehr zu rechnen.“ In diesem kurzen, nüchternen Vermerk in der Akte eines Mannheimer „Zigeuners“ scheint das Schicksal der etwa 500.000 europäischen Sinti und Roma auf, die während der NS-Zeit in Konzentrationslager deportiert und ermordet wurden. Der Völkermord an den Sinti und Roma geschah in einem relativ kurzen Zeitraum, von 1940 bis 1945, doch hat ihre Diskriminierung und Verfolgung eine lange Vor- und auch Nachgeschichte.

Die systematische Erfassung begann bereits in der Weimarer Republik

Verfolgt und ausgegrenzt wurden Sinti und Roma schon seit dem Mittelalter. In den deutschen Staaten Württemberg und Baden existierte seit 1905 bzw. 1908 ein gegen Sinti und Roma gerichtetes „Verbot des Reisens in Horden“, das schon für Gruppen ab drei Personen galt. Wer mit mehr als zwei Personen reisend aufgegriffen wurde, war ab diesem Zeitpunkt vorbestraft. Zu Zeiten der Weimarer Republik wurden „Zigeuner“ immer gezielter erfasst, wobei das Land Baden eine unrühmliche Vorreiterrolle spielte: Dort wurde 1922 ein „Personalblatt“ eingeführt, also ein Sonderausweis für „Zigeuner“ ausgestellt. Ein Jahr später richtete man in Karlsruhe eine Registrierstelle für Sinti und Roma ein und baute mit damals modernster Technik eine Fingerabdrucksammlung auf.

1927 wurden mit der „Zigeunernachrichtenstelle“ eigene Stellen bei der Kriminalpolizei eingerichtet. Als die Nationalsozialisten im Jahr 1933 an die Macht kamen, konnten sie auf umfangreiche Daten zurückgreifen. „Die Grundlage für die systematische Erfassung der „Zigeuner“ wurde also bereits in der Weimarer Republik geschaffen“, so der Historiker Dr. Udo Engbring-Romang, Lehrbeauftragter an der TU Darmstadt.

 

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Die Verfolgung während der NS-Zeit

Nach 1934 gewann die Verfolgung der Sinti und Roma an Schärfe. Als „Zigeuner“ identifizierte Personen wurden ausgebürgert; in Zeitungsartikeln wurde zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ aufgerufen. 1935 wurden Sinti und Roma in die Nürnberger Gesetze – etwa in das so genannte Blutschutzgesetz – mit einbezogen und ab 1936 gezwungen, in Gettos zu leben.

Am 8. Dezember 1938 begann mit dem „Grunderlass“ die reichsweit einheitlich koordinierte Verfolgung und Erfassung „nach dem Wesen ihrer Rasse“ durch die Polizei – „damit endete die „klassische“, aus der kaiserlichen und Weimarer Zeit stammende Länderverfolgung von Sinti und Roma“, so Engbring-Romang. Es folgten Zwangssterilisierungen, schon bei Kindern ab zwölf Jahren, und ab 1940 erste Deportationen in das besetzte Polen.

Am 16. Mai 1940 wurden ca. 2.500 Sinti und Roma verhaftet und wenige Tage später in das damalige „Generalgouvernement“ im besetzten Polen deportiert. Nur wenige erlebten das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Diese bürokratisch penibel vorbereitete Aktion ging auf einen Erlass Heinrich Himmlers, Reichsführer SS, zurück und kann zu Recht als Generalprobe für den Völkermord bezeichnet werden.

Am 16. Dezember 1942 befahl Heinrich Himmler im „Auschwitz-Erlass“, der im Januar durch einen Schnellbrief ersetzt wurde, „Zigeuner ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad“ in das Konzentrationslager nach Auschwitz zu deportieren. Der erste große „Zigeunertransport“ erreichte Auschwitz am 26. Februar 1943. Diese Deportationen dauerten an bis Juli 1944.

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Die Bürgerrechtsbewegung

Kurz erklärt: Die Bürgerrechtsbewegung

Nach 1945 wird der Völkermord an den Sinti und Roma geleugnet, die Sondererfassung der „Zigeuner“ dauert an. Gegen diese „zweite Verfolgung“ protestiert die in den 1970er Jahren entstehende Bürgerrechtsbewegung, die schließlich die Anerkennung des Völkermords und Entschädigungsansprüche durchsetzt. Bis heute kämpft sie gegen Diskriminierung. 

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Ab 1945: Verfolgung in der Nachkriegszeit

Auch nach Kriegsende dauert Diskriminierung an

Schätzungsweise 500.000 Sinti und Roma fielen dem Völkermord europaweit zum Opfer, die Dunkelziffer ist jedoch groß. Von den auf dem Gebiet des damaligen „Großdeutschen Reichs“ lebenden 22.000 bis 23.000 Angehörigen der Minderheit wurden 15.000 ermordet. Nur etwa 7000 bis 8000 Sinti und Roma überlebten den Völkermord.

Doch die Überlebenden wurden nicht als „rassisch Verfolgte“ anerkannt. Nach dem Untergang des NS-Regimes kehren viele Überlebende in ihre Heimatorte zurück. Dort müssen sie erfahren, dass in den Behörden zum Teil noch immer Beamte beschäftigt sind, die an den Deportationen in die Konzentrationslager beteiligt waren. Der deutsche Staat leugnet nicht nur den Völkermord an Sinti und Roma und verweigert Entschädigungen, viele Polizeistationen setzen auch die rassistische Sondererfassung der „Zigeuner“ fort: Überlebende wurden nach alten „Zigeunergesetzen“ behandelt und bei der Polizei etwa als „Landfahrer“ geführt.

Erst spät regen sich Proteste gegen diese „zweite Verfolgung“. Ilona Lagrene erinnert sich an die damalige Zeit:

„Vor allem die Älteren hatten Angst, durch ein Engagement erneut als Angehörige einer Minderheit sichtbar zu werden. Sie fürchteten neuerliche Repressalien.“

 

Zur Person: Ilona Lagrene

Ilona Lagrene gehört zu den treibenden Kräften der Bürgerrechtsarbeit der Sinti und Roma. Sie war Mitbegründerin und Vorsitzende des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma und ist bis heute Vorstandsmitglied im rheinland-pfälzischen Verband Deutscher Sinti und Roma. Ihre Eltern überlebten den Völkermord.

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1980: Bürgerrechtler treten in Hungerstreik

Im Jahr 1980 gewinnt die Bürgerrechtsbewegung an Aufmerksamkeit: In diesem Jahr treten Sinti in der KZ-Gedenkstätte Dachau in Hungerstreik, um gegen die fortgeführte Sondererfassung von „Zigeunern“ durch das bayerische Landeskriminalamt zu protestieren. Die Behörde greift dabei auf ehemalige Rassegutachten der Nationalsozialisten zurück. Einen Teil dieser Akten, anhand derer noch in den 1970er Jahren Rasseforschung betrieben wird, können engagierte Sinti sicherstellen, als sie im Jahr 1982 die Universität Tübingen besetzen.

„Diese skandalösen Vorgänge waren Staat und Kirchen bekannt, doch sie reagierten nicht. Das ließ mich und andere Mannheimer Sinti-Frauen aktiv werden“,
erinnert sich Ilona Lagrene.

Die Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen verlangen eine Stellungnahme der Bischofskonferenz; die Bürgerrechtsbewegung nimmt Fahrt auf.

Erst im Jahr 1982 wurde das Völkermordverbrechen an den Sinti und Roma durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt. 1986 gehört Ilona Lagrene zu den Mitbegründern des baden-württembergischen Landesverbands Deutscher Sinti und Roma, dem sie von 1989 bis 1995 vorsitzt. Der Verband arbeitet die Verfolgungsgeschichte auf, unterstützt Betroffene bei Entschädigungsverfahren und leistet Beratungs- und Aufklärungsarbeit.

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Der Kampf für das Erinnern

Der Landesverband setzt sich auch mit der Landeszentrale für politische Bildung auseinander. In einer ihrer Publikationen aus dem Jahr 1992 werden Sinti und Roma als „andersartig“ und von der gesellschaftlichen Norm abweichend diffamiert. In einer anderen Broschüre aus dieser Zeit wird die Verfolgung der Juden thematisiert, die der Sinti und Roma aber nicht einmal erwähnt. „Unsere Kritik war jedoch der Ausgangspunkt einer engen Zusammenarbeit mit der Landeszentrale – bis heute“, stellt Ilona Lagrene rückblickend fest. 

Die Bürgerrechtsbewegung kämpft auch für das Erinnern. Vieles von dem, was heute über die Deportationen und Vorgänge in den Konzentrationslagern bekannt ist, kam erst durch Recherchen der Bürgerrechtler zutage. Gegen anfängliche Widerstände setzt der Landesverband eine Gedenktafel am Bahnhof von Asperg durch, von dem im Mai 1940 die erste große Deportation abging. Im Jahr 1995 wird die Tafel eingeweiht – im selben Jahr wie eine Gedenktafel für die deportierten Juden an der Stiftskirche in Tübingen. Der Völkermord ist nun anerkannt. „Er war zeitlich begrenzt und kann einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden: den Nazis“, sagt Daniel Strauß, der dem Landesverband heute vorsitzt.

„Schwieriger ist es, den jahrhundertalten, alltäglichen Antiziganismus anzuerkennen, den ein Nachbar oder Gemeindemitglied äußert. Denn der ist mitten unter uns.“

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Gedenktage der Sinti und Roma

Jahrzehnte hat es gedauert, bis der Völkermord an den Sinti und Roma in das öffentliche Bewusstsein einbezogen worden ist. In der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland fand lange Zeit weder eine politische noch eine juristische Aufarbeitung des Völkermords an den Sinti und Roma statt. 1982 erfolgte schließlich die offizielle politische Anerkennung des Verbrechens der Nationalsozialisten an der Minderheit durch Bundeskanzler Helmut Schmidt. Heute erinnert eine Reihe von Gedenktagen an die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma.
Überblick "Gedenktage - Sinti und Roma"

Quellen und Literatur


Der Artikel basiert auf den Vorträgen und anschließender Diskussion von Ilona Lagrene und Dr. Udo Engbring-Romang, die auf der Tagung „Erscheinungsformen des Antiziganismus“ am 13. November 2017 sprachen.
Dr. Udo Engbring-Romang ist Historiker, Lehrbeauftragter der TU Darmstadt und Mitbegründer der Gesellschaft für Antiziganismusforschung.
Ilona Lagrene gehört zu den treibenden Kräften der Bürgerrechtsarbeit der Sinti und Roma: Sie war Mitbegründerin und Vorsitzende des heutigen Landesverbands Deutscher Sinti und Roma und ist bis heute Vorstandsmitglied im rheinland-pfälzischen Verband Deutscher Sinti und Roma.


Literatur:
Udo Engbring-Romang: „Mit einer Rückkehr ist nicht mehr zu rechnen…“. Die Verfolgung der Sinti und Roma in Mannheim, hrsg. vom Stadtarchiv Mannheim – Institut für Zeitgeschichte, Ostfildern 2017.

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