Geschichte Grafenecks in den Jahren 1939-1941

Grafeneck 1940 und die „Aktion T4“ in den Jahren 1939-1941

Das Schloss Grafeneck, 60 Kilometer südlich von Stuttgart auf der Schwäbischen Alb gelegen, war das erste von sechs Vernichtungszentren der sogenannten Aktion T4 im Deutschen Reich.

Im Januar 1940 begannen hier die Morde an über 10.654 Menschen, die von den Nationalsozialisten als „lebensunwertes Leben“ stigmatisiert wurden. Am 14. Oktober 1939 war das Samariterstift Grafeneck für „Zwecke des Reichs“ beschlagnahmt und die Bewohner der Pflegeanstalt in das Kloster Reutte gebracht worden.
Fünf weitere Vernichtungszentren wurden im Zeitraum von Februar 1940 bis Januar 1941 eingerichtet:

  • Brandenburg an der Havel (Beginn der Morde im Februar 1940)
  • Hartheim in Alkoven bei Linz (Beginn der Morde im Mai 1940)
  • Pirna-Sonnenstein (Beginn der Morde im Juni 1940)
  • Bernburg an der Saale (Beginn der Morde im November 1940)
  • Hadamar bei Limburg (Beginn der Morde im Januar 1941)


In den Jahren 1940 und 1941 wurden mehr als 70.000 Menschen mehrheitlich mit geistiger Behinderung oder psychiatrischer Erkrankung in den Anstalten durch Vergiftung mit Kohlenmonoxid-Gas ermordet. Diese Verbrechen wurden von den Nationalsozialisten verharmlosend als „Gnadentod“ oder „Euthanasie“ bezeichnet.

Grafeneck, als erstes von sechs Vernichtungszentren als „Anstalt A“ bezeichnet, steht dabei für den Beginn der systematisch-industriellen Ermordung von Menschen im NS-Staat.

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Zentrale Planung und Steuerung der Morde

Kennzeichnend für die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen war ihre zentrale Planung und Steuerung. An der Spitze der „Aktion T4“ standen der Leiter der Kanzlei des Führers Philipp Bouhler und der Begleitarzt Hitlers Dr. Karl Brandt.

Weitere Stellen wie das Reichsinnenministerium und die Innenministerien der Länder waren in die Planungen involviert. Im Falle Grafenecks waren das die Innenministerien der Länder Württemberg, Baden und Bayern. Der Name „Aktion T4“ geht dabei auf den Sitz der eigens gegründeten Planungs- und Lenkungsbehörde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin zurück. Es handelt sich dabei nicht um eine zeitgenössische Bezeichnung, sondern um einen in der Nachkriegszeit geprägten Begriff.

In einem auf den 1. September 1939 zurückdatierten Schreiben vom Oktober 1939 beauftragte Hitler Bouhler und Brandt damit, wie es in dem Schreiben heißt, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“. 

Das Auftragsschreiben verschleierte bewusst die historische Realität. Zu keiner Zeit ging es den Tätern um Leidensverminderung und Leidensverkürzung, niemals um Sterbehilfe, niemals um „Gnadentod“ und Erlösung.
Hinter den Zeilen steht der Auftrag zu einem staatlichen Verbrechen aus „rassenhygienischen“ Motiven und ökonomischen Kosten-Nutzen-Überlegungen.

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Die Morde von Grafeneck – arbeitsteilige Täterschaft

Der Massenmord von Grafeneck war eines der „staatlichen arbeitsteiligen Großverbrechen“ des Nationalsozialismus. Mit einher ging eine „arbeitsteilige Täterschaft“: Hand in Hand arbeiteten eine Vielzahl von Institutionen, Organisationen und Personen auf den Ebenen des Reichs, der Länder und direkt vor Ort in Grafeneck zusammen.

Von Berlin aus wurden die Anstalten erfasst. Hierfür wurden in einem ersten Schritt alle Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands angeschrieben (ungefähr 500 Einrichtungen mit 350.000 Patienten und Heimbewohnern). Die Patienten und Heimbewohner wurden mit Hilfe von Fragebögen erfasst, welche wiederum an Gutachter und Obergutachter weitergeleitet wurden. Diese selektierten und bestimmten schließlich die Opfer.

Das württembergische Innenministerium in Stuttgart und das badische Innenministerium in Karlsruhe ordneten die Deportationen nach Grafeneck an. In den Dokumenten der staatlichen Bürokratie ist hierbei die Rede von „Verlegungen“. Der Vorschlag, Grafeneck als die reichsweit erste Vernichtungsstätte auszuwählen, stammte ebenfalls von den Beamten des württembergischen Innenministeriums. In Einzelfällen bereisten sie auch die Einrichtungen des Landes, um die Ausfüllung der Meldebogen zu erzwingen oder diese selbst vorzunehmen.

Für die Deportationen nach Grafeneck setzten die Täter – das Personal bestand aus knapp einhundert Männern und Frauen – die zur Metapher für das Verbrechen gewordenen „Grauen Busse“ und von der Reichspost überlassene rote Busse ein. Die Opfer wurden nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft in einem zur Gaskammer umgebauten Nebengebäude des Schlosses mit Kohlenmonoxid-Gas ermordet. Die Leichen wurden vor Ort in einem eigens errichteten Gebäude in drei Krematoriumsöfen verbrannt.

Ein im Schloss untergebrachtes Polizei- und Sonderstandesamt stellte die Sterbeurkunden aus. Diese wurden den Angehörigen der Opfer zusammen mit einem Begleitbrief, dem sogenannten Trostbrief, zugestellt. In allen Fällen war nicht nur die Todesursache gefälscht, sondern ebenfalls die Todesdaten und in nicht wenigen Fällen auch der Sterbeort. Dies diente dazu die Angehörigen und Kostenträger zu täuschen, um etwaige Nachfragen oder Nachforschungen zu verhindern.


„Trostbrief" – Begleitschreiben Theodor K. (Downlaod PDF)

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Das Ende der „Euthanasie“-Verbrechen in Grafeneck im Dezember 1940

Im Dezember 1940 endeten die Morde in Grafeneck. Als Gründe hierfür können das Scheitern der Geheimhaltungsbemühungen und zunehmende Proteste von Kirchen, Angehörigen, Einrichtungen sowie aus Kreisen der NSDAP gelten. Protest und Widerstand waren für den Abbruch der Morde jedoch nur ein Aspekt. Noch entscheidender war mit großer Wahrscheinlichkeit die Tatsache, dass, wie einer der Täter sagte, „das Gebiet erschöpft“ und das „Plansoll“ im Dezember 1940 weit überschritten war. Nicht wie ursprünglich geplant 20 Prozent, sondern die Hälfte aller Patienten in südwestdeutschen Einrichtungen war zu diesem Zeitpunkt ermordet worden. Hierfür spricht auch die Versetzung des Grafenecker Täterpersonals in die hessische Anstalt Hadamar, ebenfalls eine Vernichtungseinrichtung, wo die Morde der „Aktion T4“ im Januar 1941 begannen.

Mit dem Massenmord an Patienten und Bewohnern von Heil- und Pflegeanstalten begann ein Weg, der zum Mord an den europäischen Juden führte und in den Vernichtungslagern des Ostens endete, für die Auschwitz-Birkenau als Symbol steht. Der ärztliche Direktor von Grafeneck, Horst Schumann, wurde Lagerarzt von Birkenau. Ein anderer, Christian Wirth, Generalinspektor der „Aktion Reinhardt“, im Zuge derer 1942/43 über 1,3 Millionen Jüdinnen und Juden und Tausende Sinti und Roma in den besetzten polnischen Gebieten ermordet wurden. Jeder vierte Täter von Grafeneck fand Verwendung in den Vernichtungsstätten des Holocaust.

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Der Komplex der NS-„Euthanasie“-Verbrechen

Dem Massenmord an Anstaltspatienten durch Gas in den sechs Vernichtungszentren der „Aktion T4“ (1939-1941) waren bereits Mordaktionen des nationalsozialistischen Staates vorausgegangen und weitere folgten nach. Auch diese Mordaktionen, die schon im Sommer 1939 begannen und bis Kriegsende reichten, werden von der historischen Forschung dem Komplex der NS-„Euthanasie“ -Verbrechen zugeordnet. Zu ihnen zählen der als Kinder-„Euthanasie“ bezeichnete Mord an 5.000 Säuglingen und Kindern in sogenannten Kinderfachabteilungen innerhalb bestehender Kliniken in den Jahren 1939 bis 1945 sowie die sogenannte dezentrale „Euthanasie“. Darunter ist die Ermordung von weit über 50.000 Menschen innerhalb der psychiatrischen Kliniken durch Spritzen, Medikamente und Nahrungsmittelentzug in den Jahren 1941 bis 1945 zu verstehen. Ebenso dem Komplex der NS-„Euthanasie“-Verbrechen zugehörig sind die Morde an Psychiatriepatienten in Polen und in der UdSSR.

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